
Maumaus / 13. Mai 2017
Zwei Wochen nach unserer Ankunft fragte Jean-Francois: was sagt ihr zu Hause, wenn sie fragen, was wir hier machen? Alle fingen an zu lachen.
Ich sitze mit offener Balkontür in meinem Zimmer im dritten Stock, und es knallt. Alle Hunde des Viertels fangen an zu bellen. Es knallt zum zweiten Mal, der Schuss hallt weiter durch die Straßenschluchten und vervielfältigt sich. In der Bar unter mir wird gebrüllt. 2:0 für Benfica.
Die Straße ist aus der Anfangszeit des Estado Novo, nette kleine Wohnungen mit hinter Vorhängen observierenden Omas und Dachgärten. Vom Küchenbalkon aus wird die Sicht auf die Altstadt und den Tejo teilweise verdeckt von einem gigantischen Sozialbau aus den späten siebziger Jahren namens Sonho de Abril. Der Name feiert das Ende der Diktatur im April 1974. Das Tal heißt Vale escuro, finsteres Tal. Bei Wind verursacht das kilometerlange Gebäude ein Heulen wie die Geräuschkulisse eines billigen Horrorfilms.
Die Salazar-Architektur, in der ich wohne, ist irgendwie menschenfreundlicher als diese.
Die Straße ist benannt nach Mouzinho de Albuquerque, einem der Kolonialisten, die hier überall in Bronze herumstehen. Seine Heldentat war die Unterwerfung des letzten Herrschers von Gaza, Ngungunhana, den er 1895 nach Lissabon brachte und mit seinen sieben Ehefrauen als Attraktion zur Schau stellte.
Mein Literaturstapel: Pankaj Mishra, Walter Benjamin, Achille Mbembé, Etienne Balibar, Beatrice Preciado, Jürgen Habermas, Édouard Glissant, Georg Lukács, Stuart Hall, Hannah Arendt, Michel Serres, Georges Bataille, Eduardo Viveiros de Castro, Roland Barthes, Alexander Kluge, Graham Harman und H.P. Lovecraft, Rosalind Krauss, James Baldwin, Jaques Rancière, Realismus, Kannibalismus, objektorientierte Ontologie, Queer Theory, Anna Grimshaw, Tim Hecker, Foucault, ich versuche zu lesen, während sie schon wieder schießen und hupen. Inzwischen steht es 4:0. Die Glocken beginnen zu läuten. Ich hoffe, das ist Zufall.
Die ersten zwei Monate habe ich zur Untermiete bei einer Tänzerin in Benfica gewohnt, in der Nähe des Stadions. Sie war in den Jahren nach der Diktatur Primaballerina im Staatsballett, jetzt lebt sie mit ungefähr zwei Hunden und vier oder fünf Katzen in einem kleinen Haus voller Spiegel und Fernseher. Ich bin nie so weit gekommen, die Tiere wirklich zu zählen, bis sie mich rauswarf, weil ich Husten hatte. Jetzt lebe ich in Alto de São João, hoch gelegen zwischen dem gerade angesagten Graça und dem „kommenden“ Hafenviertel Xabregas. Den Gipfel des Hügels krönt ein grandioser Friedhof , eine Art Stadtmodell mit Prachtalleen, Denkmälern, Vororten, trostlosen Wohn-, das heißt, Grabsilos, Brachfeldern. Die Metro ist etwas weiter entfernt, ich gehe meistens zu Fuß. Bei aller Scheußlichkeit der Architektur gibt es überall schöne Fußgängerwege. Selbst in den ödesten Vierteln ist überall dieses blendend weiße Marmorpflaster. Ab Februar braucht man eine Sonnenbrille.
Die Löhne in Lissabon sind ungefähr auf dem Niveau von Shanghai, die Mieten auf dem von Hamburg. Mit Arbeit ist kaum genug Geld zu verdienen. Natürlich versucht jeder in dieser Situation zu vermieten, was er kann, angefeuert von Airbnb- und Kreuzfahrttouristen auf der Suche nach der portugiesischen Belle Epoque in der Altstadt und der besten Party in der Pink Street. Der Tourismus brummt. Die Altstadt ist buchstäblich ausgehöhlt, hinter den denkmalgeschützten Fassaden wird gebaut, wo man hinschaut. Die Kunstszene ist ein Teil davon, wenn auch etwas quer dazu. Ich kann mich anfangs nur mit Mühe erinnern, was und wann eigentlich die portugiesische Krise war. Hier werde ich, sehr unangenehm, auf der Straße auf Wolfgang Schäuble angesprochen.
Meine Kollegen kommen aus Frankreich, Schottland, Australien, Dänemark, Schweden, Österreich, Ecuador, Neuseeland, Portugal, Italien, Großbritannien, Japan, zu einer sieben Monate langen Reihe von kurzen Seminaren, meistens über drei Tage, und Gesprächsrunden mit Dozenten aus verschiedenen Ländern, jede Woche jemand anderes, manche kommen zwei- oder dreimal. Es sind Künstler, Kuratoren, Wissenschaftler, manche sind auch irgendwo dazwischen. Einige geben Einzelgespräche. Es gibt keine Pflichten, kein Curriculum, keine Credits, keinen Abschluss, und das motiviert und befreit anscheinend auch die Dozenten.
Maumaus ist unauffällig, fast geheim, eine sparsam umgebaute Altbauwohnung mit kleinem Seminarraum und Bibliothek im ersten Stock in einem bürgerlichen Altstadtviertel in der Nachbarschaft von Goethe-Institut, Uni, Botschaften, Krankenhaus. Kein Schild verrät, was hier passiert. Gelegentlich verlagern sich die Diskussionsrunden in den Park oder in die nächste Bar, wenn das Wetter warm genug und nichts zu projizieren ist. „Maumaus is a bubble“ sagte jemand. Trotzdem etwas näher an der Gegenwart als mein Studium, dachte ich.
Dazu gehört noch ein Ausstellungsraum mit dem Charme eines sehr aufgeräumten Rohbaus etwas weiter außerhalb, in Lumiar, einer der endlosen zugigen Plattenbausiedlungen, im Erdgeschoss eines Wohnblocks. Hier gibt es etwa alle sechs Wochen Ausstellungen der Residenzkünstler, die zum Teil mit Vorträgen oder Arbeitsgesprächen zum Programm beitragen. Zu den Vernissagen kann man sich in einer Eckkneipe Bier holen. Die Typen am Tresen haben sich an die Künstler gewöhnt und fangen auch mal Gespräche an.
Hin und wieder trifft man bei Eröffnungen oder per Zufall auch ehemalige Maumaus-Teilnehmer, die hiergeblieben sind oder weiter hier arbeiten.
5:0. Langsam mache ich mir Sorgen um mein Gehör. Sie schießen und böllern, sie hupen, sie singen. Ich kann kaum glauben, dass es noch Vuvuzelas gibt. Ohnehin bin ich jede Nacht von der Akustik des Kopfsteinpflasters beeindruckt, wenn um halb zwei die Müllabfuhr kommt, aber jetzt überlege ich zum ersten Mal, trotz der köstlich lauen Luft die Balkontür zu schließen. Zwei Kerle tanzen laut singend Arm in Arm die Straße nach Xabregas hinunter und treten gegen jede Mülltonne. Benfica ist Meister. Jetzt geht der Autocorso los und gleichzeitig das Feuerwerk.
Wiebke Wolkenhauer, MA Freie Kunst